Haben Sie das auch schon mal gehört? Die Amerikaner glauben, in Deutschland habe es Tradition, sich Gurken in den Weihnachtsbaum zu hängen. Und deshalb machen die Amerikaner das jetzt auch. Oder ist es eher so, dass wir Deutschen anfangen, uns Gurken in den Baum zu hängen, weil das – wie Halloween* – ein trendiger Brauch aus den USA ist? Ein Versuch, dem Brauch der Weihnachtsgurke auf den Grund zu gehen…
Weihnachtsbräuche gibt es viele, und der wohl wichtigste ist das Aufstellen und Dekorieren eines Weihnachtsbaums. Dieser Brauch hat sich aus einer langen, in vielen Kulturen verankerten Tradition entwickelt, nach der etwas (Immer)Grünes zur Zeit der Wintersonnenwende (21/22.12.) als Symbol des ewigen Lebens und zur Erhaltung der Gesundheit ins Haus geholt wurde. In Großbritannien, Frankreich und Nordamerika wird bis heute bevorzugt ein Zweig der Stechpalme (Ilex sp.) verwendet, in früheren Zeiten auch Lorbeer. Erst im Mittelalter wurden ganze Bäume geschmückt, allerdings nicht, um Jesu Geburt zu feiern: der 24.12. ist in der evangelischen und römisch-katholischen Kirche der Gedenktag Adams und Evas, und der mit Äpfeln geschmückte Baum symbolisierte den Paradiesbaum. Mit diesem Brauch wurde an den Sündenfall und die kommende Erlösung durch Jesus Christus erinnert. Zu dieser Zeit musste es sich aber nicht zwangsläufig um eine Tanne handeln, auch wintergrüne Laubbäume kamen in Frage. Gerade in Mitteleuropa und Deutschland, wo der „klassische“ Weihnachtsbaum ein Nadelbaum ist, gab es bis ins 19. Jahrhundert kaum Nadelbäume. Erst als Fichten- und Tannenforste angelegt wurden, konnten sich auch die bürgerlichen Schichten ganze Christbäume leisten, die damals mit Früchten, Nüssen, kleineren roten „Weihnachtsäpfeln“, Zuckergebäck, Oblaten, buntem Papierschmuck, Figuren aus Stroh und manchmal mit Kerzen geschmückt waren. Mitte des 19. Jahrhunderts sollten die echten Nüsse, Früchte und Äpfel dem ersten Glasschmuck weichen. Der uns bekannte, geschmückte Weihnachtsbaum war da und breitete sich in dieser Form weltweit aus. Auch in die USA. Dort werden – vielleicht in der Tradition der Zuckerwaren-Dekoration – auch Popcorn-Girlanden und Zuckerstangen in den Baum gehängt. Und noch eine besondere Weihnachtsschmuck-Tradition wird den Amerikanern nachgesagt: Das Aufhängen einer „Christmas-Pickle“, einer „Weihnachtsgurke“:
„In den USA ist es ein Weihnachtsbrauch, in den Weihnachtsbaum eine „Christmas Pickle“ zwischen den Zweigen zu verstecken. Durch ihre grüne Farbe ist die Gurke relativ schwer zu entdecken. Derjenige, der als erster die Weihnachtsgurke entdeckt, erhält ein zusätzliches Geschenk.“
(Artikelbeschreibung zur Weihnachtsgurke im Online-Shop des Weihnachtsschmuckhandels Käthe-Wohlfahrt in Rothenburg ob der Tauber)
Auch auf der deutschen Wikipedia-Seite zur Weihnachtsgurke heißt es fast wortgleich (mit Quellen-Verweis auf die Produktbeschreibung in einem amerikanischen Online-Shop):
„In den Vereinigten Staaten ist es ein Weihnachtsbrauch, den Weihnachtsbaum mit einer solchen „Christmas Pickle“ etwas versteckt zwischen den Zweigen zu behängen. Durch ihre grüne Farbe ist die Gurke nicht ganz so leicht zu entdecken. Derjenige, der als Erster die Weihnachtsgurke entdeckt, erhält ein zusätzliches Geschenk.“
Als ich zuletzt mit einem Kollegen aus den USA beim Essen zusammen saß, sprach ich ihn auf diesen amerikanischen Brauch an, doch hatte er weder von einer Weihnachtsgurke, noch von einer Christmas pickle je gehört. Er war sehr überrascht, dass es diese Tradition geben solle und erkundigte sich bei Freunden und Angehörigen in den USA, ob sie diesen Brauch denn kennen. Zwar hänge man sich in den USA den aller-seltsamsten Glasschmuck in den Baum, aber keine Gurken:
„As I said, we found carrots, strawberries and donuts but no pickles! Also, nobody in my family has ever heard of this tradition.“
Mysteriös. Aber die USA sind ein Schmelztiegel der Kulturen, und vielleicht muss man nur genug Leute fragen um einen Menschen zu finden, der diesen Brauch kennt oder ihn gar praktiziert. Und siehe da, mein amerikanischer Kollege reichte folgende Antwort der Frau eines Freundes, Marlys, an mich weiter:
„Ich habe eine gekauft, aber in USA nie davon gehört. Gekauft in Deutschland in einer Laden für Weihnachts-Schmuck. Dieser Geschäft ist für Touristen und glaube die Geschichte was ich habe beim Kauf gelesen ist nur „Marketing“.“
Etwas später hatte Marlys freundlicherweise die Weihnachtsgurke fotografiert und ergänzt:
„Here is the pickle ornament I bought many years ago from the Käthe Wohlfahrt Christmas Store in Heidelberg. I still have to find the note that came with it which explains why the Germans put a pickle on the Christmas tree. Ha ha!“
In diesem „“Geschäft für Touristen“ von Käthe Wohlfahrt wird die Weihnachtsgurke, die im Online-Shop in der deutschsprachigen Beschreibung als amerikanischer Brauch beschrieben wird, also in einem beigelegten Zettel (den sie leider nicht wiedergefunden hat) als alter deutscher Brauch angeboten.
Oder ist an beidem etwas dran? Vielleicht stammt die Suche nach der Weihnachtsgurke aus der Anfangszeit des Weihnachtsschmucks in Deutschland und wurde mit deutschen Siedlern in die USA importiert, während der Brauch hierzulande schon wieder vergessen wurde.
Und tatsächlich gibt es in der Wikipedia eine gescannte Katalog-Seite der Lyra-Fahrrad-Werke („Erstes, ältestes, größtes und leistungsfähigstes Spezial-Haus für Fahrräder, Sportartikel, Uhren, Goldwaren, Waffen, Spielwaren“), die ein Set („Nr. 5046. Christbaumschmuck“, für 85Pfg.) aus 12 Weihnachtsschmuck-Figuren mit folgenden Worten anpreist:
„Dieses ganz reizende Sortiment aus Glasfiguren eignet sich ganz besonders für kleine Kinder und hat im letzten Jahre ganz besonders Beifall gefunden. Alles ist beweglich und kann auch als Spielzeug benutzt werden. Wirkung sehr schön.“
Neben einer Gurke beinhaltet das Sortiment außerdem: Engel, Fliegenpilz, Vogel, Tannenzapfen, 2 Flaschen, verzierte Kugel, Kleid (?), Trompete, Nikolaus und sowas wie eine Motte. Eine besondere Beschreibung zur Verwendungsweise der Gurke sucht man jedoch vergeblich, weshalb zu vermuten ist, dass die Gurke wie die übrigen Glasfiguren nur der Dekoration diente (oder, wenn es nach dem Hersteller geht, auch als – wahrscheinlich eher langweiliges – Kinderspielzeug). Sie wird im Katalog auch nicht explizit als „Weihnachtsgurke“ bezeichnet, es gibt lediglich die Abbildung einer Gurke.
Außer Frage steht zumindest, dass Glasschmuck für den Christbaum eine deutsche Erfindung ist, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt, und für nicht mehr kann die zitierte Katalogseite als Nachweis dienen. Gemüse als Weihnachtsbaumbehang war nichts Ungewöhnliches.
Das Deutsche Weihnachtsmuseum, das zur Käthe Wohlfahrt KG gehört, hat mir in einem sehr ausführlichen Antwortschreiben über die Herkunft der Weihnachtsgurke folgendes Spannendes geschrieben:
„Unter anderem gibt es unter diesen historischen Objekten eine erstaunliche Vielzahl an verschiedenen Obst- und Gemüsesorten (z.B. Karotten, Äpfel, Birnen, Pfirsiche, Kohlköpfe etc.) – Bezug nehmend auf den allerersten, ganz ursprünglichen, natürlichen oder essbaren Baumbehang. Die Sammlung im „Deutschen Weihnachtsmuseum“ zeigt das sehr schön auf. Als Watte und Pappe-Ornamente den deutschen Weihnachtsbaum eroberten wird die Vielfalt der Motive, auch beim Obst und Gemüse, nochmals deutlich größer. Wie kommt das?: Motivvorlage waren anfänglich stets Dinge, die man im eigenen Erfahrungsbereich sehen und einfach nachgestalten konnte. Mit dem Aufkommen der Glaskugel für den Weihnachtsbaum im 19. Jh., ihrem billiger werden durch verbesserte Herstellungsmöglichkeiten (durch Silbernitrat, Gasanstalt, etc.) und der zunehmenden Formenvielfalt durch Formglaskugeln wird der Glasbaumbehang auch immer populärer. So sucht man natürlich dann nicht nur gänzlich neue Formen, sondern greift auch auf das Bekannte zurück und es entstehen eben auch die Glasfrüchte und Gemüse aus Glas (Glasnüsse sind übrigens die ersten belegbaren Formglaskugeln für Weihnachten gewesen!)
[…]
Jedenfalls findet man heute neben Obst, den Gurken und Karotten auch Auberginen, Knoblauch, Zwiebeln, Paprika und Tomaten, Erbsenschoten u.a.m. aus Glas im Sortiment der Glashersteller und man kann sich so einen echten Gemüsebaum ins Weihnachtszimmer stellen. Erlaubt ist eben, was gefällt!“
Das Weihnachtsmuseum berichtete zudem, dass „viele Amerikaner es uns immer wieder bestätigen, dass Sie an Ihren Weihnachtsbaum eine Glasgurke hängen.“ Und weiterhin auch, dass diese den Brauch praktizieren würden.
Dennoch fällt auf, dass besonders Weihnachtsschmuckhändler diesen Mythos einen verbreiteten Brauch nennen und ihre Weihnachtsgurken damit bewerben. Firma Lauscha, die seit 1847 Christbaumschmuck produziert und die Weihnachtsgurke auch „Glücksgurke“ nennt, beschreibt „Die Weihnachts-Gurken-Legende“ zu drei ihrer Produkte inhaltlich ähnlich, zum Beispiel so:
„Immer mehr Familien lassen den aus den lebenslustigen 20er Jahren stammenden Brauch um die Weihnachtsgurke wieder lebendig werden. Am Heiligabend suchen die Kinder und Erwachsenen die Gurke am Weihnachtsbaum. Allerdings wird, um den Reiz zu erhalten, die größere Gurke für die Kleinen und die kleinere Gurke für die Großen versteckt. Für denjenigen, der die Gurke als erstes entdeckt, hat der Weihnachtsmann ein extra Geschenk unter den Baum gelegt. Wir wünschen viel Freude beim gemeinsamen Suchen und gratulieren dem Gewinner. Für alle anderen gilt: Nächste Chance-nächstes Jahr! Frohe Weihnachten.“
In einem anderen Text wird deutlich, dass sich auch Lauscha eigentlich gar nicht so sicher ist, woher dieser Brauch tatsächlich stammt, nur dass er seit Jahrzehnten immer beliebter werden würde, erklärt die Firma recht werbewirksam. Lauscha schreibt an anderer Stelle nun sehr aufrichtig:
„Um die Weihnachtsgurke ranken sich unzählige, mehr oder weniger glaubwürdige Geschichten. Zu finden und nachzulesen sind diese in einschlägiger Literatur oder natürlich im weltweiten Netz.
Wir möchten hier lediglich auf einen netten Brauch eingehen, der in den letzten Jahrzehnten, nicht zu Unrecht, immer mehr Freunde gefunden hat.
[…]
Ob alter Brauch oder nicht, eines steht jedoch fest – die Suche nach der gläsernen Weihnachtsgurke ist ein toller Spaß für Groß und Klein und erfreut sich zunehmender Beliebtheit.“
Eine Umfrage von yougov.com unter 2057 Befragten im November 2016 kam dagegen zu dem Ergebnis, dass 91% der Deutschen die Weihnachtsgurke eben nicht kennen. Den höchsten Bekanntheitsgrad erreichte sie unter den Befragten im Alter zwischen 25 und 44, ältere kennen sie kaum. Nicht ganz eindeutig ist, ob die 8% nur den Baumschmuck kennen oder auch den Brauch. 2% der Befragten praktizieren den Brauch tatsächlich. Ob dies aus traditionellen Gründen geschieht oder weil die Hersteller über ihre Produktbeschreibungen den (angeblichen) Brauch unter die Leute bringen, geht aus der Umfrage leider nicht hervor.
Aber wie kann eigentlich etwas ein Brauch oder eine Tradition sein, was anscheinend von niemandem praktiziert wird?
Es scheint, als wolle man einen Brauch herbeischreiben. Möglicherweise haben die Baumschmuckhersteller einst damit angefangen, um ein ziemlich „unweihnachtliches“ Ornament aus einer reichen Palette unweihnachtlicher Ornamente besser verkaufen zu können – so wie Lyra seinen teils absurd wirkenden Baumschmuck als tolles Kinderspielzeug angepriesen hatte. Nicht wenige Menschen hegen zudem eine Vorliebe für Skurrilitäten (im Artikel von yougov.com wurde die Weihnachtsgurke mehrfach als „ulkig“ bezeichnet), und so wundert es nicht, dass auch die Presse (hier: T-Online) solche „Legenden“ und Bräuche gerne aufgreift und dadurch die Vorstellung, es handele sich um eine echte Tradition, noch verfestigt:
„[…] In den USA ist man der festen Überzeugung, dass ein deutsches Weihnachtsfest ohne den Baumschmuck undenkbar sei.
Im Laufe der letzten dreißig Jahre haben viele Amerikaner den vermeintlich deutschen Brauch lieb gewonnen – egal, ob mit oder ohne deutsche Wurzeln.“
Gänzlich unbekannt, wie unsere kleine Umfrage unter einer Handvoll Amerikaner suggeriert, ist die Christmas pickle Tradition tatsächlich nicht. So weit verbreitet, wie gerne behauptet wird, wohl aber auch nicht. Als einziges Indiz dafür, dass manche Amerikaner den Brauch tatsächlich kennen, müssen englischsprachige Artikel im Internet herhalten, die sich mit den angeblich deutschen Wurzeln des Brauchs befassen (Ergebnis: in Deutschland praktisch unbekannt). Die gleiche Aufklärungsarbeit findet trotz geringer Bekanntheit auch im deutschsprachigen Teil des Internets statt.
Zwei Deutsche habe ich aber noch gefunden, die eine Weihnachtsgurke haben: die eine ist – ich glaubte es kaum – meine Mutter. Sie hatte den Baumschmuck vor 4 bis 5 Jahren gekauft. Und der Brauch? Den kannte sie erst, als die Verkäuferin ihn ihr erklärte!
Nur weil ihr die Geschichte so gut gefallen hatte, hat sie die Weihnachtsgurke auch gekauft. Auf genau dieselbe Weise ist mein Bekannter aus Hamburg an die Gurke gekommen. Der Marketing-Trick funktioniert also ganz gut. Beide praktizieren den Brauch allerdings nicht.
Es mag sein, dass der Brauch um die Weihnachtsgurke in Deutschland immer bekannter wird. Aber dies hängt nicht mit einer alten, deutschen (oder amerikanischen) Tradition zusammen, sondern mit Marketing.
Auch das Deutsche Weihnachtsmuseum schreibt:
„[Der Brauch] ist in Deutschland NICHT traditionell verankert. Seit ein paar Jahren, als die Medien begannen das Thema aufzugreifen, wissen aber doch schon die ein oder anderen etwas darüber und so mancher hat es wohl eher als Partyscherz aufgegriffen.“
Nicht nur die Weihnachtsschmuckhändler, sondern auch der nichtspezialisierte Deko-Handel greift inzwischen auf diesen Mythos zurück, um Baumschmuck zu verkaufen. In den USA entwickelt man den Mythos sogar schon weiter und erfindet mit vollem Ernst einen Gurken-Elf („Pickle elf“), der uns die wahre Bedeutung von Weihnachten näher bringen möchte:
„Follow the journey of Pickle Elf as he learns the magic of giving, and inspires Santa to begin this wonderful Christmas tradition. Want to join in the fun this holiday? It’s easy! Leave the pickle ornament by the milk and cookies for Santa to hang on your Christmas tree. In the morning watch your loved ones, big and small, search for the pickle. The first one to find it will receive an extra present from St. Nick!“
Eine enttäuschte Käuferin bemerke in ihrer Rezension (2 Sterne, hilfreichste) ganz richtig:
„I was very disappointed in the story. I was hoping for a traditional folktale, and this definitely was not.“
Nein, es ist (noch) keine echte Tradition. Keine der Weihnachtsgurken-Legenden ist wahr. Die Gurke als gewöhnlicher Weihnachtsschmuck kommt zwar ursprünglich (wie jeder gläserne Weihnachtsschmuck!) aus Deutschland, die Legenden um diese und der Brauch sind jedoch in den USA entstanden. Aber jeder Brauch begann als etwas Neues – warum also nicht das Weihnachtsfest um eine neue Tradition bereichern?
*Halloween ist ein Brauch aus dem katholischen Irland, der in den USA weiter ausgeschmückt wurde