Rosa x centifolia oder Portulaca grandiflora? Überlegungen zur »moss rose« in The Naval Treaty

Diesen Artikel habe ich für das Sherlock-Holmes-Magazin, herausgegeben von J. A. Klingsöhr, geschrieben (Heft 47, 2021, S.4-9). Er behandelt ausnahmsweise nicht  die Essbarkeit von Pflanzen, sondern ihren symbolischen Wert in einer Holmes-Kurzgeschichte. Es ist mein Beitrag zum sogenannten Sherlockian Game (oder Sherlockian Reading): ein Interpretationsspiel, das sich mit den 60 kanonischen Sherlock Holmes-Geschichten beschäftigt. Nach den Regeln dieses Spieles war Sherlock Holmes eine historisch reale Figur und sein Freund Dr. Watson der tatsächliche Autor dieser 60 gemeinsam erlebten Abenteuer. Unter dieser Voraussetzung werden die Geschichten auf spezielle Weise hinterfragt indem versucht wird, die Kunst scharfer Beobachtung und Schlussfolgerung anzuwenden, für die Holmes so berühmt war.


Glaube, Liebe, Rosen

In der wohl bekanntesten Szene aus „Der Flottenvertrag“ (The Naval Treaty) unterbricht Sherlock Holmes das erste Konsultationsgespräch mit dem arg mitgenommenen Klienten Percy Phelps und seiner Verlobten Annie Harrison, um sich unvermittelt einer am Fenster befindlichen »Moosrose« (im Original: moss rose) zuzuwenden. Die Blume in die Hand nehmend, sinniert er über ihren Duft und ihre Farbe, was nicht nur bei seinem Freund und Begleiter Dr. Watson für Verwunderung sorgt:

Sherlock Homes holding a rose
Sherlock Homes holding a rose, aus „The Naval Treaty“. Erschienen in The Strand Magazine im Oktober 1893. Illustration von Sidney Paget (1860-1908), Public domain, via Wikimedia Commons

»Wie wunderbar doch so eine Rose ist!«

Er ging an der Couch vorbei zum offenen Fenster und hielt den herabhängenden Stiel einer Moosrose hoch, auf die zarte Mischung von Karmesin und Grün herabschauend. Das war ein neuer Charakterzug für mich, denn ich hatte ihn nie zuvor Interesse für die Dinge der Natur bekunden sehen.

»Es gibt nichts, wo Deduktion so zwingend ist wie in der Religion«, sagte er, sich mit dem Rücken an die Läden lehnend. »Sie kann vom logisch Denkenden wie eine Wissenschaft aufgebaut werden. Unsere höchste Gewissheit für die Güte der Vorsehung scheint mir in den Blumen zu liegen. Alles andere, unsere Fähigkeiten, unsere Begierden, unsere Nahrung, sind von erster Notwendigkeit für unsere Existenz. Aber diese Rose ist eine Dreingabe. Ihr Duft und ihre Farbe sind eine Verschönerung des Lebens, keine Voraussetzung dafür. Nur die Güte schenkt Dreingaben, und so sage ich noch einmal, dass wir von den Blumen viel zu erhoffen haben.«

Holmes scheint den Fall, den er bearbeiten soll, von einem Moment auf den anderen vergessen zu haben. Die sinnlichen Eindrücke, wie sie von einer schönen Blüte ausgehen, lassen ihn in minutenlange Träumerei versinken. Seinen Andeutungen nach hat Holmes soeben einen Teil seiner religiösen Weltsicht preisgegeben. Doch gleichzeitig ahnt man, dass die Umstände des aktuellen Falles ihn hierzu gebracht haben, selbst wenn es seinen Klienten und auch Watson für den Moment nicht verständlich ist. Die Lage von Percy Phelps, dem vor neun Wochen ein vertrauliches Dokument (ein geheimer Marinevertrag) abhanden kam und dessen Karriere im Foreign Office dadurch ruiniert ist, scheint hoffnungslos zu sein. Scheinbar ganz unvermittelt hört man nun Holmes von der »Güte der Vorsehung« sprechen, mit der er eine andere Form von Trost für den nervlich schwer angeschlagenen Percy andeutet. Aus Sicht des Betroffenen ist aber erstmal nur ein Trost denkbar: dass Holmes seinem Ruf gerecht wird und dem ganz aussichtlos erscheinenden Fall eine Wendung geben kann. Unmittelbar bevor der zu Hilfe gerufene Meisterdetektiv auf die Rose aufmerksam wird, sagt er:

»Die Behörden sind ausgezeichnet im Zusammentragen von Tatsachen, obwohl sie sie nicht immer mit Gewinn verwenden.«

(»The authorities are excellent at amassing facts, though they do not always use them to advantage.«)

Holmes hat sich mit dem Tatsachenmaterial des Falles vertraut gemacht und kann davon ausgehen, dass auch die offiziellen Ermittler in dieser Sache ihr Bestes getan haben, da es um eine Staatsaffäre auf höchster Ebene geht. Irgendeine unter all diesen bislang zusammengetragenen und auch in den nächsten Tagen zu erwartenden Tatsachen könnte den Schlüssel zur Lösung des Rätsels enthalten. Noch hat Holmes keinen Ansatzpunkt, aber das bringt ihn nicht dazu, in Mutlosigkeit zu verfallen. Er weiß, dass in den kommenden Stunden und Tagen erstmal nur seine Wachsamkeit zählt. Aus dieser für ihn ganz natürlichen Einstellung heraus scheint er auf die Blume am Fenster aufmerksam zu werden. Auch sie ist eine „Tatsache“, aus der Holmes weitaus mehr zu folgern vermag als die meisten anderen Menschen.

Trotz aussichtslos wirkender Lage steht also Hoffnung im Raum, als Holmes seinen berühmten Blumenmonolog formuliert. Doch geht es hier nur um die theoretische Lösbarkeit des Falles, oder noch um eine andere denkbare „Güte der Vorsehung“? Ich denke, dass letzteres unbedingt zutrifft, und zwar in der Verknüpfung des Blumenmotivs mit der „Nebenfigur“ Annie. Als Holmes über die Blume sinniert, dann auch über Annies unverbrüchliche Liebe zum so schwer getroffenen Percy; erst in dieser Symbolik, also bei der Abkehr von der rein kriminalistischen Ebene, kommt das Herz der Geschichte zum Vorschein.

Bereits dem Erzähler Watson fallen beim Betreten des improvisierten Krankenzimmers die »säuberlich arrangierten Blumen in allen Winkeln und Ecken« auf. Sie bezeugen zweifellos Annies Treue und Hingabe, doch Holmes ignoriert in gewisser Weise diese symbolische Blütenpracht, als er stattdessen auf die eine, besondere Blume am Fenster zugeht und erst bei ihrem Anblick die Verbindung zur Güte der Vorsehung herstellt. Nur, was für eine Blume ist dies eigentlich, und was könnte sie gegenüber den vielen anderen im Zimmer so hervorgehoben haben?

In der deutschen Übersetzung bewundert Holmes eine »Moosrose« (Rosa × centifolia ‚Muscosa‘), eine alte Mutation der Zentifolie mit moosartig ausgefranstem Stängel und wunderbarem Duft. Damals schon mit etlichen Zuchtsorten im Handel, muss sie in Gärten weit verbreitet gewesen sein, und man könnte deshalb annehmen, dass Annie mit ebensolchen Rosen aus dem Garten das Zimmer dekoriert hatte. Rosen sind Sinnbild des Schönen und der (romantischen) Liebe. Da sich Holmes im Pflegezimmer eines Paares aufhält, das bald heiraten möchte, sollte die Rose jene starke Liebe versinnbildlichen, die sich gegen alle Widerstände zu behaupten vermag. Die Verbindung zwischen Annie und Percy, die besondere Art, wie sie sich in dem liebevoll hergerichteten Zimmer manifestiert, scheint Holmes von Anfang an zu berühren.

Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose

Zentifolie
Die Moosrose (Rosa × centifolia ‚Muscosa‘), eine Zentifolie

Eine wunderschöne Moosrose als Bild für Annies Fürsorge und Liebe – damit scheint alles gesagt. Was aber, wenn es gar keine Rose im üblichen Sinne war, die Holmes in die Hand nahm? Angenommen, es handelte sich in Wirklichkeit um eine ganz andere Blume, wäre dann eine alternative Interpretation möglich?

Die deutsche Bezeichnung „Moosrose“ jedenfalls und auch die im englischen Original genannte moss rose führen botanisch oder floristisch nicht Bewanderte auf eine unsichere Fährte, denn diese Vernakularnamen sind – wie so oft – nicht eindeutig auf eine Pflanze festgelegt. Nehmen wir zunächst an, es handelte sich tatsächlich um eine Rose, dann spricht für diese Theorie hauptsächlich der unvergleichliche, intensive Duft, der von Rosenfreunden speziell für diese Sorte beschrieben wird. In anderen Punkten müssten wir uns jedoch mit einigen Ungereimtheiten arrangieren. Der „herabhängende Stiel“ (im Original the drooping stalk) passt zunächst nicht so recht zu einer Rose, denn man kennt Rosen vor allem als Blüten an einem langen, geraden und verholzten Stiel. Nicht im Blumenhandel, jedoch in Gärten findet man auch teils hochgewachsene Rosensträucher, oder an Rankhilfen wie Spalieren, Pergolen und Lauben kletternde Rosenpflanzen, an denen Blüten in alle Richtungen wachsen. Moosrosen gehören nicht zu den rankenden Sorten, jedoch wird für sie ein auseinanderfallender Wuchs beschrieben. Vielleicht hatte Holmes also einen Blütenkopf gegriffen und, um ihn betrachten zu können, den hängenden Stiel zu sich aufgerichtet.

Was ist mit der Blütenfarbe? Sie wird von Watson als »zarte Mischung aus Karmesin und Grün« erinnert. Karmesin ist ein tiefes, intensives Rot, die Blüten der Moosrosen sind dagegen meistens rosa. Vermutlich meinte Watson mit der „zarten Mischung“ eine Mischung aus eher blassem Karmesin und Grün, und damit Rosa und Hellgrün, oder das Attribut „zart“ bezieht sich nicht auf die Farbintensität, sondern auf die zarte Beschaffenheit der Blütenblätter. Bis hierher würde die Moosrose ins Bild passen, besonders die Züchtungen ‚Laneii‘ von 1854 sowie ‚Capitaine John Ingram‘ von 1856. Doch kann diese Annahme zumindest angezweifelt werden.

In der Illustration von Sidney Paget ist zu sehen, wie Holmes eine kleine, gepflückte Blume in der Hand hält und auf sie hinabblickt. Er hält sie erkennbar am Rest ihres Stiels, doch dies wirkt irreführend (wie übrigens auch das bodentiefe Fenster): Da die Stiele der Rosen recht zäh sind, hätte Holmes vielleicht nur den Blütenkopf abgerissen; es wäre sicher müheloser geschehen. Und noch viel müheloser hätte Holmes sich aus einer der Vasen im Zimmer bedienen können. In der 1984er-Verfilmung mit Jeremy Brett sehen wir genau dies: Holmes nimmt sich eine Rose aus einer Vase und geht zum Fenster, wo er seinen gedankenverloren wirkenden Monolog beginnt:

Für eine Rose, insbesondere eine Moosrose, erscheint die gepflückte Blüte in der Illustration auffällig klein. Details sind nicht erkennbar, schon gar nicht die namensgebende, „moosige“ Struktur des Stängels – die allerdings vielen Zuchtsorten auch fehlte! Doch welche Alternativen zur Moosrose kommen in Frage? Könnte nicht nur Watson, sondern auch der Illustrator Paget eine ganz andere Pflanze vor Augen gehabt haben?

Traian Suttles behauptet in »Drogenrausch und Deduktion« (2017, S.193) eine Fehlübersetzung ins Deutsche. Bei der englischen moss rose sei in Wirklichkeit das – an echte Rosen in Sachen Erhabenheit und Anmut bei weitem nicht heranreichende – Portulakröschen (Portulaca grandiflora) gemeint, für welche die Bezeichnung moss rose tatsächlich geläufiger ist als für die Moosrose. Die Moosrose wird im Englischen vor allem shrub rose genannt, manchmal mit dem Vermerk »also known as moss rose«. Nimmt man nun an, die moss rose sei ein Portulakröschen, fragt man sich, warum sich Holmes ausgerechnet in diesem Moment und ausgerechnet von dieser vergleichsweise kleinen Blume so verzaubern und ablenken lassen sollte. Um so mehr, da er ja in einem mit mutmaßlich prachtvolleren Blumen dekorierten Raum steht. Die beschriebenen botanischen Merkmale sowie die Symbolkraft lassen gegenüber möglichen Übersetzungsfehlern oder irreführenden Namensübereinstimmungen, mit denen Suttles argumentiert, tatsächlich wenig Zweifel daran, dass Holmes eine „richtige“ Rose bewunderte. Aber Holmes wäre nicht Holmes, wenn das sofort Ersichtliche kein weiteres Hinterfragen erlaubte, und so wollen wir uns einmal genauer anschauen, was es mit dem Portulakröschen auf sich hat.

Das Portulakröschen

Im Englischen ist die Pflanze unter vielen Namen bekannt, darunter purslane, moss rose, garden purslane, moss-rose purslane und einigen weiteren Schreibvarianten all dieser Bezeichnungen. Der Name (common) purslane wird auch für den als Wildgemüse und Heilpflanze bekannten Sommer- oder Gemüseportulak (Portulaca olearacea) verwendet. Moss Rose wird diese weit verbreitete, in Europa heimische Pflanze jedoch nicht genannt, und obwohl sie durchaus auch in Gärten (wie auch überall sonst, und zwar als „Unkraut“) zu finden ist, hielt Holmes mit Sicherheit keine Gemüseportulakblüte in der Hand. Die Blüten dieser Portulakart sind jedenfalls stets gelb (abgesehen von wenigen, vermutlich noch nicht sehr alten und wenig verbreiteten Züchtungen) und fallen oft schon ab, bevor sie sich überhaupt öffnen. Obwohl ich danach suchte, habe ich bislang noch keinen erblühten Gemüseportulak finden können.

Das Portulakröschen stammt ursprünglich aus Patagonien und dem Altiplano-Hochland Südamerikas und wurde das erste Mal 1829 von Sir William Jackson Hooker beschrieben (Botanical Magazine 56: pl. 2885. 1829. (1 Feb. 1829)). Hooker berichtet in seiner Erstbeschreibung über die Pflanze, dass Professor De Candolle die Gattung Portulaca als sehr heterogen bezeichne und ihre Merkmale nicht genau verstanden seien. Dennoch zeigte sich Hooker optimistisch, eine neue Art entdeckt zu haben, die wegen der Schönheit ihrer Blüten eine begehrenswerte Pflanze für Gewächshäuser abgeben würde. Er sollte Recht behalten.

In Hookers Erstbeschreibung berichtet dieser, dass Dr. Gillies westlich des Rio Desaguardero im bolivianischen Altiplano-Hochland die Pflanzen im Überfluss vorfand, wo sie den Boden mit purpurner Farbe bedeckten, hier und dort von orangefarbenen Flecken einer anderen Blütenvarietät derselben Art gesprenkelt. Hooker erklärte, seine Neuentdeckung hätte große Ähnlichkeit zur Art Portulaca pilosa, und tatsächlich wollte der niederländische Botaniker Robert Geesink 1969 P. grandiflora als Unterart von P. pilosa einstufen. Daher existiert das Synonym Portulaca pilosa subsp. grandiflora (Hook) R. Geesink (Großblütiger Portulak), das jedoch kaum anerkannt wird. Hooker hatte als Unterscheidungsmerkmal angegeben, dass die Blätter und ganz besonders die Blüten deutlich größer als bei P. pilosa seien. Auch gegenüber zwei weiteren Arten konnte Hooker diese Art abgrenzen.

Nach Europa kam diese Pflanze vermutlich 1845, also mehr als 40 Jahre, bevor Holmes sich der Vorkommnisse um den verschwundenen Flottenvertrag annahm. Bald war das Portulakröschen eine begehrte Zierpflanze:

»Als vor etwa 20 Jahren in den Gärten Portulaca grandiflora Hook, und P. Gilliesii Hook, aus Chili eingeführt wurden, fanden sie überall grossen Beifall. Die prächtigen carmoisin- oder purpurrothen Blumen, der niedrige Wuchs der Pflanze und die Leichtigkeit der Cultur mussten sogleich für die neue Pflanze einnehmen. Man cultivirte sie in Heideerde und im Topf, freute sich der schönen Blumen […], konnte aber eigentlich nichts damit machen. Handelsgärtner und Samenzüchter bepflanzten ganze Kästen damit, und somit hatte man den Anblick eines ganzen Beetes und konnte bemerken, dass die Pflanze ausserordentlich gut für kleine Beete im Freien sein würde. Versuche damit im Freien waren bald gemacht, und somit war eine neue nützliche Blume für warme sonnige Lagen gewonnen. Bald zeigten sich auch mehrere Spielarten, in verschiedenen rothen Farben, sowie in Weiss, endlich gelbe und gestreifte Blumen in allen Farben zwischen dunkelroth und weiss und gelb.«

(„Gartenflora“, Band 14 von 1865, S. 304-305)

Das Portulakröschen ist recht robust, obwohl es nicht frosthart ist und viel Sonne braucht. Wo das Klima stimmt, bildet die Pflanze große Teppiche (die Bezeichnung moss rose könnte damit zusammenhängen). Gerne verwildert es auch außerhalb der Gärten und ist dann an sonnigen, eher trockenen Standorten wie an Wegrändern zu finden:

»In der That sieht man, namentlich auf hartem abhängigem Boden im Frühjahre nach gelinden Wintern die Portulaca wie Rasen aufgehen.«

(ebd.)

Portulakröschen
Verschiedene Zuchtsorten des Portulakröschen (Portulaca grandiflora) mit gefüllten und ungefüllten Blüten sowie unterschiedlichen Blattformen

Wegen des großen Sonnenhungers dieser Pflanze ist es dennoch eher unwahrscheinlich, dass Holmes sie außerhalb von Gärten und Gewächshäusern zu Gesicht bekommen konnte. Wenn überhaupt, pflanzte man vor allem gezüchtete Sorten. So gibt es beispielsweise gefüllte Blütenvariationen, die einer Rose, auch einer Moosrose, deutlich ähnlicher sehen als die ursprünglich importierte Blütengestalt:

»Die gefüllten Portulak der Neuzeit oder Portulakröschen, wie sie Hr. Deegen nannte, haben den Vorzug aller gefüllten Blumen, dass sie länger blühen. […] Durch die Füllung der Blume erhält diese auch eine viel schönere Form, was selbst diejenigen zu ihrer Bevorzugung führen muss, welche die gefüllten Blumen nicht unbedingt für schönere halten. Der Name Portulakröschen ist gut gewählt, denn in der That sehen sie kleinen, dicht gefüllten Rosen ähnlich, erinnern aber noch mehr an die Ranunkeln.«

(ebd.)

Aber hätte Holmes wirklich von einer Dreingabe gesprochen, wenn die Schönheit und Opulenz einer Blüte in Wahrheit auf menschliche Züchtung und Auslese zurückgehen? Dieser Aspekt spricht sowohl gegen die Moosrose, als auch gegen ein gefülltes Portulakröschen – sofern Holmes botanisch bewandert genug ist, beide als Züchtungsprodukte zu kennen. In Watsons berühmter Checkliste aus A Study in Scarlet liest man unter Punkt 5 bekanntlich: »Kenntnisse in Botanik: Unterschiedlich. (…) Er weiß nichts über praktische Gärtnerei.«

Kann es also sein, dass Holmes eine relativ schlichte, ursprüngliche Blüte vor sich hatte, von der er wusste, dass es keine Zuchtform ist? Falls ja, glich diese wohl eher einer Stein- oder Wildnelke (Dianthus sylvestris) als einer Rose. Dafür spricht auch die (zarte) karmesinrote Farbe der Blüte. Tatsächlich gehört die Familie der Portulakgewächse (Portulacaceae) der Ordnung der Nelkenartigen (Caryophyllales) an. Eines der auffälligsten gemeinsamen Merkmale der Nelkenartigen sind die Kronblätter (die Petalen), die fast immer 5 zählen und als eiförmig (beim Portulakröschen verkehrt-eiförmig) beschrieben werden. Außerdem sind ihre Ränder meist gezähnt, zerschlitzt oder gekerbt. Die Blütenblätter der Portulakröschen zeigen alle wenigstens eine Kerbe in der Mitte, die dem einzelnen Blütenblatt eine an ein Herz (!) erinnernde Form verleiht. Allerdings ist die übrige Erscheinung der Portulake völlig anders als die der Nelken und auch der Rosen, so dass eine Verwechslung ausgeschlossen ist. Denn die meisten Portulakarten sind Sukkulente (von lateinisch sucus für „Saft“ bzw. suculentus für „saftreich“). Ihre oft nadelförmigen Blätter und ihre Stängel sind stark verdickt und speichern Wasser. Diesem in aller Regel am Boden kriechenden Kraut fehlt es mit seinen dickfleischigen, gedrungenen Blättchen an Schönheit. Es repräsentiert eine erzwungene Anpassung an widrige Lebensumstände, die Holmes als „Notwendigkeit für unsere Existenz“ identifiziert und vielleicht – übertragen auf den Menschen – so geringschätzt, wie er es auch sonst den alltäglichen Verrichtungen gegenüber äußert. Aus diesem unschönen, rein zweckmäßig angelegten Kraut jedoch erwachsen die vielen leuchtend pinken oder roten Blüten, als besondere Dreingabe der Natur, oder eben des Göttlichen, wie der staunende Holmes es andeutet.

Befand sich am Fenster vielleicht so etwas wie ein Blumenkasten, aus dem einige Blüten des Portulakröschens heraushingen und Holmes anzogen? Dies klingt zunächst nicht überzeugend, doch es gibt weitere Merkmale und Besonderheiten des Portulakröschens, und einige davon beinhalten durchaus die Möglichkeit, dass sie Holmes’ scharfe Beobachtungsgabe herausforderten und dabei zutiefst faszinierten.

Neben den oben genannten Trivialnamen gibt es weitere, die auf eine ganz spezielle Eigenheit des Portulakröschens hindeuten: In Indien heißt sie Nau Bajiya (nine o’clock flower), in Vietnam Hoa mười giờ (ten o’clock flower) und auf den Philippinen Uru-alas dose (etwa twelve o’clock). Und in England? Dort heißt sie eleven o’clock, und außerdem sun flower. Bei vielen Arten der Portulaca öffnen sich die Blüten nur bei direkter Sonneneinstrahlung, in Europa speziell erst gegen Mittag oder am späten Vormittag. Offenbar befanden sich Holmes und Watson zur richtigen Uhrzeit im Zimmer, da Holmes sonst nur verschlossene Blüten gesehen hätte. An diesem Tag, nach Percys postalischem Hilferuf aus Woking, wird Watson wohl kaum nach 10:00 Uhr bei Holmes gewesen sein:

 »Meine Frau stimmte mit mir überein, daß kein Augenblick versäumt werden sollte, ihm die Sache vorzulegen, und so fand ich mich binnen einer Stunde nach der Frühstückszeit wieder einmal in den alten Räumen in der Baker Street.«

Holmes will nach Lesen des Briefes sofort aufbrechen, und so sind sie vermutlich gerade zum Zeitpunkt des Aufblühens um etwa 11:00 Uhr in Percys Haus:

»Wir erreichten zum Glück in Waterloo einen frühen Zug, und in etwas weniger als einer Stunde fanden wir uns inmitten der Tannenwälder und des Heidekrauts von Woking.«

Sich öffnendes Portulakröschen
Ein sich öffnendes Portulakröschen

Gut vorstellbar ist also, dass Holmes an diesem Julitag Zeuge des plötzlichen Erblühens der kleinen, schönen Blüten wurde. Wenn er von ihnen deshalb derart in den Bann gezogen wurde, dass er darüber all die anderen schönen Blüten im Zimmer nicht weiter beachtete, wäre dies nachvollziehbar. Das Erblühen der Portulakröschen mag ihm wie ein kleines Wunder vorgekommen sein, das unbemerkt vor den Augen der anderen ablief und auf das er sie in diesem Moment hinweisen musste – als Symbol der unverhofft herannahenden Güte eines momentan noch finster wirkenden Schicksals.

Zu besagtem „Wunder“ ist aber noch eine andere Blume in der Lage, die zudem große Ähnlichkeit zum Portulakröschen hat. Betrachten wir also diese dritte mögliche Lösung des botanischen Rätsels, das Watson uns hinterließ.

Eine dritte Kandidatin

Watson mag seinen Freund Holmes als Experten für allerlei pflanzliche Gifte sehen, der jedoch von Gärtnerei oder Pflanzenzucht wenig weiß. Umgekehrt muss dies aber nicht bedeuten, dass Watson ein exzellenter Blumenkenner ist. Ebenso wie im Fall des Gefleckten Bandes, von dem im »Flottenvertrag« sogar einmal die Rede ist, könnte uns der gute Doktor eine irreführende biologische Zuordnung hinterlassen haben. Was er für ein Portulakröschen gehalten haben könnte, war vielleicht etwas anderes.

Als ich mich über Portulakröschen informierte, fiel mir sofort die Ähnlichkeit zu einer Blume auf, die ich auf der Kanalinsel Jersey gesehen hatte. Und nein, es war natürlich nicht die „Jersey Lily“ (= Lillie Langtry). Es handelte sich um eine Sukkulente mit nadelförmigen, dickfleischigen Blättern und pinkfarbenen Blüten. Zunächst fand ich nur heraus, dass es „Mittagsblumen“ waren. Es gibt viele Blumen, die diesen Namen tragen, darunter auch das Portulakröschen. Im systematisch korrekten Sinne sind aber die Gattungen der Mittagsblumengewächse (Aizoaceae) gemeint, die oft dicke Teppiche an felsigen Küsten bilden, so auch auf Jersey. Eigentlich kommen sie aus Südafrika, manche sind aber gefürchtete Neophyten, die nun überall in Europa in wärmeren Gebieten vorkommen und teilweise zur Uferbefestigung angepflanzt wurden. Könnte es auch eine dieser Mittagsblumen gewesen sein, die Holmes’ scharfem Blick auffielen?

Durch meine Beschäftigung mit den Mittagsblumengewächsen stieß ich zunächst auf die Art Carpobrotus edulis. Sie bildet wie alle Mittagsblumen essbare „Feigen“, außerdem können die salzig schmeckenden Blätter gegessen werden. Die Art C. glaucescens bildet als Seltenheit sogar salzige Früchte, die nach Erdbeeren oder Kiwi schmecken. Im Englischen heißt die Essbare Mittagsblume auch hottentot-fig, ice plant oder pigface. Mit ihren fleischigen Blättern sieht sie dem Portulakröschen gar nicht unähnlich, die Blüten können gelb und pink sein. Beide Pflanzen unterscheiden sich eigentlich „nur“ durch die Form der Blütenblätter, wie es scheint: Beim Portulakröschen eher wie Nelken (5 breite Blütenblätter), bei Mittagsblumen ein bisschen wie Gänseblümchen (viele lanzettförmige Blütenblätter).

Bei den Blumen auf Jersey handelt es sich aber wahrscheinlich um die Rote Mittagsblume (Carpobrotus acinaciformis), die im Englischen auch elands sourfig, elandssuurvy oder sally-my-handsome heißt. Sie unterscheidet sich optisch kaum von der Essbaren Mittagsblume, außer, dass die Blüten stets von einem hellen Karmesinrot (pink) sind. Der entscheidende Punkt ist ihre weite Ausbreitung in Europa. Die Rote Mittagsblume ist eine beliebte Zierpflanze, die sogar in Südengland verwildert ist.

Neben der Gattung Mesembryanthemum ist Carpobrotus die einzige Mittagsblume, die ebenfalls in Europa vorkommt (eingeschleppt), wobei Mesembryanthemum anscheinend nur bis zum Mittelmeer vorkommt und nördlichere Gebiete nicht mehr besiedelt. Die Rote Mittagsblume wurde von Linné ursprünglich Mesembryanthemum zugerechnet, und zwar schon 1753 (als M. acinaciforme). Andere Gattungen der Mittagsblumengewächse können aus verschiedenen Gründen ausgeschlossen werden.

Während das Portulakröschen ursprünglich aus Patagonien kommt und 1829 das erste Mal wissenschaftlich erfasst wurde, beschrieb Linné die Essbare Mittagsblume in seinem Standardwerk von 1759. Die Rote Mittagsblume wurde der Gattung Carpobrotus erst 1927 von der südafrikanischen Botanikerin Harriet Margaret Louisa Bolus zugeordnet, also aus Linnés Einordnung von 1753 herausgelöst. Der aktuell akzeptierte Name lautet vollständig Carpobrotus acinaciformis (L.) L.Bolus. Jedenfalls sind diese – auch von der Südhalbkugel stammenden, exotischen Pflanzen – zu Holmes’ Zeit bereits bekannt und waren mit Sicherheit schon damals in Europa verwildert. Wenn Holmes je in Südengland oder gar auf den Kanalinseln am Ufer entlang spaziert ist, muss ihm die Rote Mittagsblume schon begegnet sein. Ihren Namen verdanken die Mittagsblumen demselben Phänomen, das dem Portulakröschen seinen Beinamen eintrug: sie öffnen ihre Blüten nur, wenn die Sonne scheint, bei Regen und in der Nacht schließen sie sich. Somit hätte diese exotisch wirkende Blume Holmes auf die gleiche Weise verzaubern können, wie es theoretisch von einem Portulakröschen denkbar wäre.

Aber warum sollte es sich um eine dieser Mittagsblumen handeln und nicht um ein Portulakröschen, das in Gärten doch viel verbreiteter ist und in seinen Zuchtformen mit den gefüllten Blüten große Ähnlichkeit mit Rosen hat? Die Antwort ergibt sich zunächst einmal daraus, dass bei Portulakröschen mit gefüllten Blüten das Wunder der durch Sonnenlicht ausgelösten Öffnung ausbleibt:

»Bei Portulaca kommt noch der besonders günstige Umstand hinzu, dass die gefüllten Blumen sich auch bei trübem Himmel und in den frühen und späten Tagesstunden nicht schliessen, wie es bei den einfachen der Fall ist.«

(„Gartenflora“, Band 14 von 1865)

Wenn Holmes die Öffnung der Blüte beobachtet hat, kann es sich also nicht um eine gefüllte Zuchtform gehandelt haben, und wie bereits erwähnt, hätte eine menschgemachte Züchtung auch nicht zu Holmes’ Argumentation gepasst, in der ja die Göttlichkeit der Dreingabe hervorgehoben wird. Einem ursprünglichen Portulakröschen sehen die Mittagsblumen auf den ersten Blick durchaus ähnlich, auch wenn die Blüten in der Gestalt, wie bereits gesagt, eher großen, pinkfarbenen Gänseblümchen als Nelken oder Rosen gleichen. Und sie haben etwa dieselben Ansprüche an ihre Umgebung und zeigen die gleiche Reaktion gegenüber Sonnenlicht. Es wäre folglich keine Schande, wenn Watson angenommen hätte, sein Freund habe ein Portulakröschen in der Hand gehalten, obwohl es eine Mittagsblume war. Aus der Distanz hätte er Details wie die Form der Blütenblätter schlecht erkennen können, und es wäre ihm nicht zu verdenken, wenn er an eine viel näherliegende Pflanze dachte als eben an Carpobrotus acinaciformis.

Vor allem aber könnte zwischen der Roten Mittagsblume und Annie ein Zusammenhang hergestellt werden, der direkter ist als Holmes’ Nennung der Güte. Annie Harrison wird beschrieben als eine »eindrucksvoll aussehende Frau, zwar nicht ganz ebenmäßig – ein bißchen klein und fest –, aber mit einem wunderschönen, olivfarbenen Teint, großen, dunklen, italienischen Augen und einer Fülle tiefschwarzen Haars.«

»She was a striking-looking woman, a little short and thick for symmetry, but with a beautiful olive complexion, large, dark Italian eyes, and a wealth of deep black hair.«

Sie macht also einen südländischen Eindruck – in der Beschreibung sehr betont durch die »italienischen Augen«. Ihr Name klingt englisch, aber vielleicht hat sie mediterrane Wurzeln. Außerdem könnte man spekulieren, dass Percy sie möglicherweise auf einer Reise in den Süden kennenlernte. Percy und/oder seine zukünftige Frau hätten dann, auf die eine oder andere Weise, eine emotionale Verbindung zum Süden. Denkbar wäre, dass Percy eine Mittagsblume aus diesen Gefilden von einer Reise für Annie mitgebracht hatte, oder dass Annie selbst diese Blume in den Garten beziehungsweise in einen fensternahen Blumenkasten pflanzte, als Erinnerung an ihre Heimat. Wenn es so war, erkannte Holmes diesen Zusammenhang und fügte ihn sogleich in das Bild ein, das er sich bereits von diesem außergewöhnlichen Paar gemacht hatte. Er bekam so nicht nur die seltene Gelegenheit, eine exotische Blume mit besonderen Eigenschaften zu bestaunen. Vor seinen Augen stand gleichzeitig eine außergewöhnlich liebevolle Beziehung, die ihm etwas bewies: dass es einen besonderen Menschen gibt, von dem Percy trotz seiner verzweifelten Lage viel zu erhoffen hat, und dass dies auch für die Menschheit insgesamt gilt, sobald man die Gegenwart des Numinosen zu spüren beginnt.

Annies ununterbrochener Fürsorge, ihrer Liebe zu Percy also war es letztlich zu verdanken, dass der Flottenvertrag nicht gestohlen werden konnte. Denn dieser befand sich die ganze Zeit in dem Raum, in dem der kranke Percy lag und die nicht von seiner Seite weichende Annie wachte (nachts die von Annie eingestellte Krankenschwester). Ohne diese besondere Liebe, diese „Dreingabe der Natur“ aus Holmes Sicht, die Annies ständige Aufmerksamkeit garantierte, hätte sich der Dieb den Flottenvertrag längst aneignen können.

Fazit

Die „religiöse Deduktion“ in The Naval Treaty führt den Leser in ein verstecktes Dilemma, wie man es auch aus vielen anderen Holmes-Geschichten kennt. Sofern Watson die Worte von Holmes, insbesondere das „Dreingabe“-Argument, richtig wiedergegeben hat, ist eine Zentifolie kein gutes Demonstrationsobjekt, da sie eine Zuchtform ist. Dass Holmes dies nicht wissen könnte ist sehr unwahrscheinlich, da Moosrosen in England schon seit 1724 kultiviert wurden und auch als Bildmotiv sehr verbreitet waren (diesen Hinweis, sowie den auf die beiden oben erwähnten Züchtungen ‚Laneii‘ und ‚Capitaine John Ingram‘, verdanke ich einer Recherche von Ralph Ilmer).

Wenn Holmes stattdessen aber ein Portulakröschen oder eine andere Art wie die Rote Mittagsblume in der Hand hielt, ist nicht unbedingt zu erwarten, dass er diese als Rose bezeichnete (nämlich bei der Aussage »diese Rose ist eine Dreingabe«). In diesem Fall könnte angenommen werden, dass er eher „Blume“ oder „Blüte“ sagte, und Watson in diesem Punkt seines Berichtes bloß ungenau war. Letztlich kann man sich nur fragen, welche Teile des Holmesschen Monologs Watson am stärksten beeindruckten, und deshalb auch von ihm mit größerer Genauigkeit festgehalten wurden.

© Jennifer Markwirth 2024, https://flora-obscura.de/
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