Dieser Artikel erschien 2021 im Begleitbuch zur Ausstellung „Die Stadt und das Grün – Frankfurter Gartenlust“ des Historischen Museums Frankfurt, 25. März bis 29. August 2021, S. 299-302. Herausgeberinnen sind Nina Gorgus und LisaVoigt.
An einem frühen Nachmittag im Juli stehe ich mit dem Botaniker Andreas König vor dem Grüne-Soße-Beet im Botanischen Garten Frankfurt. Die Gartenkresse, die mir noch für mein Frankfurter-Grüne-Soße-Motiv fehlt, blüht jetzt. Im Beet stehen bis zu 40 cm große Pflänzchen, oben mit winzigen, weißen Blüten, unten mit gelb werdenden, fiederschnittigen Blättchen. Eigentlich kennt man die Kresse nur als Sprösslinge, aber im Botanischen Garten dürfen sie zur Blüte und zur Frucht kommen. Die Pflanzen im Beet scheinen eine bewegte Wachstumsgeschichte zu haben, denn keine wächst einfach gerade nach oben, alle scheinen über die letzten Wochen das eine oder andere Mal von Wind und Regen in die Waagerechte gedrückt worden zu sein, um ihre Blüten und Früchte aus dieser Position, den Elementen zum Trotz, wieder dem Himmel entgegen zu strecken. Für mein Bild ist der gerade Wuchs zweitrangig, denn ich kann ihn beim Fotografieren im Studio mithilfe von Präpariernadeln korrigieren. Ich wähle ein Exemplar mit schönen Blüten und weniger gelben Blättern aus. Es steht ausgerechnet im hintersten Bereich des Beetes, das ich nicht betreten darf, deshalb zieht Andreas König es für mich vorsichtig aus dem Boden. Er benetzt die Pflanze mit etwas Wasser damit sie nicht so schnell verwelkt und überreicht sie mir. Wenige Tage zuvor war mir die Japanische Mandelkirsche aufgefallen, von der ich nun einen kleinen Zweig mit den roten, leicht behaarten Früchten an kurzen Stielen abtrennen darf. Wir verkosten die Früchte: süß, saftig, ein kleiner Steinkern, doch nicht so wundervoll aromatisch wie die namensverwandten Kirschen. Aber sie sind essbar, und das ist das entscheidende Kriterium für die Auswahl meiner Motive, für mein fotografisches Thema: essbare Pflanzen.
Seit ich 2013 mit der botanischen Fotografie begann, bin ich eine regelmäßige Besucherin der drei botanischen Gärten in Frankfurt, wo ich auf Pflanzensuche gehe. Denn hier finde ich die Pflanzen die als mehr oder weniger stark verarbeitete Lebensmittel im Supermarktregal liegen, oder auch Pflanzen, von denen kaum jemand weiß, dass sie essbar sind. Dabei sind Nahrungspflanzen mehr als Obst, Gemüse und Salat; wir verdanken Pflanzen auch Kaffee, Tee, Schokolade, Gewürze, Bier, Wein, Zucker… – eine rein pflanzliche Ernährung muss nicht einmal auf Ungesundes verzichten. Pflanzen sind unser täglich Brot. Über die vielen Getreidesorten, die der Menschheit erst zur Sesshaftigkeit und schließlich zur Hochkultur verhalfen, wird wieder häufiger geredet, nämlich wenn es um Gluten geht. In der Folge werden fast vergessene Getreidearten und –sorten öfter angebaut. Wie vielfältig Getreide wirklich ist, davon konnte ich 2018 im Wissenschaftsgarten der Goethe-Universität am Campus Riedberg einen kleinen Eindruck gewinnen. Gut zwanzig Getreide waren hier angebaut. Wer erfahren will, wie die Pflanzen aussehen, denen wir im Handel zumeist nur als verarbeitetes Produkt begegnen, dem kann der Besuch eines botanischen Gartens neue (Er-)Kenntnisse bringen.
Der letzte sommerliche Septembertag 2020 ist angebrochen, die Sonne steht noch tief. Mein Weg führt mich auf einem schmalen Pfad an wilden Brombeerbüschen vorbei, Kaninchen springen vor mir ins Dickicht. Wenig später erreiche ich den Wissenschaftsgarten auf dem Riedberg. Der Blick von hier auf Frankfurt ist großartig, doch ich schaue lieber auf die Pflanzen in den Beeten. Von Herzsame, Roselle, Inkagurke und Hiobsträne wähle ich sorgsam einen Pflanzenteil aus, um ihn später meiner fotografischen Sammlung zuzuführen. Nur zwei Tage darauf begebe ich mich an einem der ersten herbstlichen Tage im Palmengarten auf Pflanzensuche. An einer abgelegenen Stelle entdecke ich Beeren, die wie vielfarbige Juwelen zwischen smaragdgrünen Blättern mit rubinroten Adern stehen: eine Ussuri-Scheinrebe. Und im nördlicheren Teil des Palmengartens tragen Mehlbeere und Weißdorn leuchtend rote und gelbe Früchte.
Essbare Pflanzen lassen sich natürlich auch in den Frankfurter Parks oder am Straßenrand entdecken; die urbane Pflanzenvielfalt überrascht. Man findet Walnussbäume, Haselnusssträucher, Kornelkirschen, Pflaumen, Kirschpflaumen, Schlehdorn und Hagebutten, außerdem Wildkräuter und Wildgemüse wie Gänseblümchen, Große Klette, Wegwarte, Bärlauch oder „Schinkenwurzel“ (Nachtkerze). Viele dieser Wildpflanzen sind aber nicht leicht bis zur Artebene zu bestimmen. Das ist – neben der besonderen Vielfalt an heimischen wie nicht europäischen Pflanzen – einer der Vorzüge Botanischer Gärten: die Pflanzen sind von Fachleuten bestimmt und tragen Namensschilder. Dem Fleiß der Botaniker*innen sowie der Gärtner*innen ist es zu verdanken, dass mein „botanisches Kabinett“ auf www.flora-obscura.de schon gut gefüllt ist. Meine Pflanzenmotive zeige ich stets auf schwarzem Hintergrund. Ihre Farben strahlen ganz besonders im Kontrast zum dunklen Umfeld. Die einerseits naturgetreue, aber gleichzeitig auch ästhetisierende Inszenierung, wie sie sonst den prächtigsten Blumen vorbehalten ist, soll uns daran erinnern, dass wir unsere Nahrungspflanzen wertschätzen müssen. Selbst die krumme Gartenkresse.