Diesmal muss ich nicht erst auf dem Smartphone nach dem lateinischen Namen googeln um zu wissen, dass diese Pflanze, die ich versteckt am Rand des Palmengartens hinter einem Café entdeckt habe, eine Nahrungspflanze ist. Ein Gewürz, um genau zu sein. Zanthoxylum piperitum ist mir längst als Szechuanpfeffer bekannt, seine kleinen, rötlichen Kapselfrüchte sind sogar gerade reif. An den kleinen Baum, der mitten im Beet steht, ist nicht so einfach heran zu kommen, doch ich erreiche einen Zweig mit einigen Fruchtständen. Ich suche mir den schönsten aus und trenne ihn mit einer kleinen Gartenschere vom Zweig ab, er landet in einer verschließbaren Plastiktüte.
Keine zwei Stunden später knie ich vor meinem Reprostativ mit der alten Pentax K-5, an das ein 50mm-Makro-Objektiv mit Solarisationsfilter montiert ist. Darunter liegen auf schwarzem Karton zuerst der gesamte Fruchtstand, danach eine kleine Fruchtgruppe und schließlich eine einzelne Frucht des Szechuanpfeffers. Als ich mit der Ausleuchtung zufrieden bin, fotografiere ich mit zwischen 20 und 60 Einzelfotos jede Schärfeebene der Objekte, um diese später von einem Stapelverarbeitungsprogramm im sogenannten Focus Stacking-Verfahren zu einem durchgehend scharfen Foto verrechnen zu lassen. Schicht um Schicht setzt das Programm die scharfen Bereiche der Bilder der Reihe nach aufeinander – für mich jedes Mal ein spannender Moment. Das fertige Bild offenbart Strukturen, die ich vorher an der etwa 5mm kleinen Einzelfrucht nicht erkennen konnte. Danach werden die Bilder gründlich überarbeitet. Das ist besonders dann notwendig, wenn das Objekt Stacheln oder – wie der Szechuanpfeffer-Fruchtstand mit seinen gestielten Einzelfrüchten – abstehende Elemente hat, die einander überlagern. Die dadurch beim Stacking entstehen Unschärfe-Säume sind oft störend. Auch der schwarze Hintergrund soll gleichmäßig dunkel und staubfrei sein, weshalb der Szechuanpfeffer freigestellt wird. Endlich bin ich mit der Bildbearbeitung fertig. Der Dateiordner mit der Bezeichnung „Zanthoxylum piperitum, Szechuanpfeffer“ landet nun im Ordner „Gewürze“.
Ich freue mich. Wieder ein Gewürz mehr in meiner Sammlung, die einmal alle essbaren Pflanzen der Welt umfassen soll. Dass diese Sammlung eines Tages vollständig sein wird, werde ich wohl nicht erleben, aber irgendjemand muss ja mal damit anfangen. Also habe ich vor 4 Jahren einfach damit angefangen. Da wusste ich noch nicht, dass es sich um bis zu 80000 Arten handeln soll. Hiervon habe ich inzwischen erst 600. Es gibt noch viel zu tun und zu entdecken.
So banales Gemüse wie Blumenkohl oder Eisbergsalat fehlt allerdings noch in der Sammlung. Vielleicht liegt das daran, dass ich hier in Frankfurt sehr viel spannendere Nahrungspflanzen finde. Nicht nur durch den Palmengarten Frankfurt mit seiner enormen Artenvielfalt bekomme ich zu meiner großen Freude Unterstützung beim Aufbau von meinem „Botanical Cabinet of Edible Plants“, sondern auch durch den Wissenschaftsgarten der Goethe-Universität und durch den Botanischen Garten Frankfurt, die jeweils ihre eigenen und manchmal wirklich eigenartigen Pflanzen hegen und pflegen.
Zuletzt traf ich mich im Oktober früh morgens am Eingang des Botanischen Gartens mit dem Botaniker, denn nur die Gärtner und Botaniker dürfen sich an den Pflanzen hier zu schaffen machen. Es war kalt, aber die Sonne schien. Ich hatte es auf die nun reife Blaugurke (Decaisnea fargesii) im südlichen Teil des Gartens abgesehen. In einem kleinen Bündel hängen die runzeligen, blauen Früchte, die wegen ihrer Gestalt und vielleicht wegen ihrer Farbe auch „Dead man’s finger“ bzw. „Katzenkotgurke“ heißen, zwischen den herbstlich-gelb gefärbten Blättern des kleinen Bäumchens. „Welche möchtest du denn haben?“ fragt mich der Botaniker mit der Gartenschere in der Hand, ich zeige auf die Früchte ganz oben. „Vielleicht noch ein Blatt dazu?“ fragt er mich. Er schneidet mir ein leicht gelb verfärbtes Blatt ab, es ist gefiedert und etwa 40cm lang. Für das eigene Herbarium schneidet er einen weiteren Fruchtstand ab während ich – sehr glücklich über diese sonderbare Frucht – die Blaugurken und das große Blatt einpacke. „Und die sind wirklich essbar?“ fragt er mich skeptisch. Er öffnet eine Frucht, die ein farbloses Gelee enthält, das viele scheibenförmige schwarze Samen umschließt. „Ja“ sage ich, und weil er noch immer zu zweifeln scheint, gebe ich den lateinischen Namen der Pflanze in die Google-Suche ein und zeige ihm verschiedene Quellen, die die Essbarkeit bestätigen. In China, wo die Pflanze ihre Heimat hat, wird das Gelee aus der Frucht gelöffelt und frisch verzehrt. Also probieren wir. Es schmeckt süß und leicht säuerlich.
Als wir durch den Gartenabschnitt mit den ostasiatischen Pflanzen gehen fragt er mich, ob ich denn schon eine Begonie in meiner Sammlung hätte. Ich verneine dies und frage erstaunt, ob die denn essbar seien. Wir stehen neben einem Areal mit etlichen blühenden Winterharten Begonien (Begonia grandis ssp. evansiana). Er pflückt uns 2 dieser kleinen, rosafarbenen Blüten mit dem gelben Puschel in der Mitte (den Staubblättern), reicht mir eine zum Probieren und isst die andere selbst. „Man kann die Blüten als Dekoration in Salaten verwenden, das ist gerade sehr modern“ sagt er. Ich esse die Blüte, sie ist zart, schmeckt frisch zitronig und angenehm sauer. Der Botaniker schneidet eine der Pflanzen aus dem Beet und gibt sie mir für meine Sammlung. Eine wunderschöne Pflanze. Später beim Fotografieren wird mir auffallen, dass das Blatt der Begonie im Durchlicht ein faszinierendes Farbenspiel entwickelt, weil die Blattunterseite rot ist. Eigentlich hatte ich mich auch auf Früchte der Indianerbanane (Asimina triloba) gefreut, aber die wurden wenige Tage zuvor von einem Mann vom Baum gestohlen. Er wurde dabei beobachtet, wie er sich mitsamt der Früchte vom Baum entfernte. Dass die Pflanzen des altehrwürdigen, von Johann Christian Senckenberg errichteten Botanischen Gartens besonders gut behütet werden, hat schon seinen Grund. Aber der freundliche Wächter des Gartens kann ja nicht überall gleichzeitig sein. Bis 2011 gehörte der Garten zur Goethe-Universität, nun gehört er zum Palmengarten nebenan und damit der Stadt. Davor gab es Pläne, mit dem Umzug der Biologischen Institute an den Campus Riedberg, wo nun auch der neue Wissenschaftsgarten errichtet wurde, diesen schönen Lehrgarten mit seiner bewegten Geschichte und des über lange Zeit gewachsenen Pflanzenbestandes zu schließen.
Wenn ich den Wissenschaftsgarten der Goethe-Universität besuche, muss ich ein gutes Stück mit der U-Bahn fahren, denn der Campus Riedberg liegt am Stadtrand. Die Pflück-Regeln sind hier für mich nicht so streng wie im Botanischen Garten, zumindest nicht im öffentlich zugänglichen Außenbereich der Anlage. Hier finde ich nochmal Pflanzen, die weder der Palmengarten noch der Botanische Garten besitzen. Im großen, warmen Gewächshaus wäre da zum Beispiel der Annattostrauch (Bixa orellana) oder die Baumstammkirsche (Plinia cauliflora), draußen ein Überfluss an Nutzpflanzen, die ich sonst höchstens im verarbeiteten Zustand sehe, wie Buchweizen (Fagopyrum esculentum und Fagopyrum tataricum), Teff (Eragrostis tef) und Hopfen (Humulus lupulus), oder auch mir bis dahin ganz fremde Nahrungspflanzen, wie das Gemshorn (Proboscidea louisianica). Und noch ein anderer „Gewürzbaum“ wächst hier, dessen rosaroten Früchte ich in getrocknetem Zustand aus bunten Pfeffermischungen kenne: Schinus molle, der Peruanische Pfefferbaum.
Das Tolle an diesen Gärten ist, neben der Vielfalt an einheimischen wie exotischen Pflanzen, dass alle Pflanzen sorgsam von Fachleuten bestimmt wurden und Namensschilder tragen. Pflanzen richtig bis zur Art zu bestimmen ist oft gar nicht einfach, an Felsenbirnen und Haselnüssen bin ich schon gescheitert. Andere Wildfrüchte wie Mispel (Mespilus germanica), Kornelkirsche (Cornus mas), oder Elsbeere (Sorbus torminalis) sind da weniger knifflig. Bei Pilzen ist die genaue Bestimmung schon aus gesundheitlichen Gründen besonders wichtig, aber leider ebenfalls nicht ganz einfach. Als ich zuletzt Ende Oktober den Wissenschaftsgarten besucht habe, um Luftkartoffeln (Dioscorea bulbifera), Nachtkerzenwurzeln (Oenothera biennis) und Garten-Fuchsschwanz (Amaranthus caudatus) zum Fotografieren und Probieren mitzunehmen, entdeckte ich auf der Wiese neben dem Garten unzählige weiße Pilze. Sie zu bestimmen war keine großere Herausforderung: es waren Schopf-Tintlinge (Coprinus comatus). Es sollen hervorragende Speisepilze sein, die sich jedoch binnen weniger Stunden zu einer schwarzen Tinte auflösen und deshalb nicht handelbar sind. Ich erntete noch ganz junge Pilze und briet sie direkt nach dem Fotografieren. Sie waren wirklich köstlich! Ganz im Gegensatz zu den Nachtkerzenwurzeln übrigens. Aber egal, wie es am Ende schmeckt: die kulinarische Vielfalt der Pflanzen und Pilze zu entdecken, ist immer ein spannendes Abenteuer.