Was in der Fotografie simpel erscheint, ist in der Literatur eine Herausforderung: eine Vorstellung von Farbigkeit zu vermitteln. Ein Bild geht direkt an die optische Wahrnehmung, während Sprache die Vorstellungskraft anregen und lenken muss, um schließlich ein eigenes Bild zu erschaffen. Die erste Liste zeigte, wie allgemein bekannte Pflanzen dazu dienen können, in der schönen Literatur und in wissenschaftlichen Texten Farbeindrücke recht präzise und anschaulich zu vermitteln. Doch was ist, wenn Gelb-, Rot- und Grüntöne ohne diese Vorbilder beschrieben werden sollen? Wenn Mineralien (Jadegrün), Tiere (Rabenblau) oder Kulturprodukte (Chinaseidengelb) Pate stehen müssen, oder Farben nach der geographischen Herkunft von Farbpigmenten (Ägyptisch Blau) benannt werden?
Besonders außerhalb der Sachliteratur scheinen Autoren und Autorinnen metaphorische Grenzen ausloten zu wollen. Und dann stellt man sich beim Lesen plötzlich solche Fragen: Welche Farbe hat eigentlich Porzellan? Wie wohl die meisten Menschen würde ich spontan „weiß“ antworten, aber sicher nicht „blau“, so wie Burroughs in „Naked lunch“. Ich müsste mir ein weißes Porzellanservice bei schlechten Lichtverhältnissen vorstellen (vielleicht zur „blauen Stunde“), und würde dann zu einem kühlen, blassen Blauton kommen, den man wie Burroughs „porzellanblau“ nennen könnte. Diese Farbverschiebung durch die Lichttemperatur vermuteten wohl auch viele Menschen, die im Februar 2015 über die wahre Farbe eines Kleides stritten, das auf einem schlechten Foto zu sehen war. (Hier zeigte sich, wie unpräzise auch die Fotografie beim Vermitteln von Farbigkeit sein kann, und auch, welche Rolle der Verstand dabei spielt, Farbe zu erkennen.) Warum Burroughs seinen Blauton jedenfalls mit „porzellan“ treffend beschrieben glaubt, erscheint im Kontext klarer: „(…) draußen der porzellanblaue Nordhimmel mit treibenden Wolkenfetzen (…).“ Dieses Bild vor Augen, könnte Porzellanblau als ein glänzendes, vielleicht perlmuttartig schimmerndes Blau gedacht sein, ein stetes Wechseln und Ineinanderfließen nicht eines einzelnen, sondern verschiedener Blautöne. So mag Porzellanblau auch für manches Gewässer oder bestimmte Vogelfedern und Schmetterlinge eine geeignete Farbbeschreibung sein. Es gibt übrigens auch eine Pflanze, deren Früchte Porcelain Berry genannt werden, nämlich die der Gattung Ampelopsis. Sie zeigen je nach Reifegrad verschiedene, ineinander übergehende Blautöne, die ich mit jadegrün über türkisblau bis rotviolett beschreiben würde. Dabei wirken sie wie von einer Glasur überzogen.
Manche experimentell erscheinende Farbmetaphern transportieren jedoch weit mehr als nur eine bestimmte Farbigkeit. Wenn Papini in „Ein erledigter Mensch“ schreibt: „Man sieht sofort, daß jene Augen nichts vom Blau des Himmels haben. Sie sind wolkengrau,“ dann ist sofort klar, dass es weniger um die Augenfarbe geht, als vielmehr um den Gemütszustand eines Menschen. Ebenso das häufig für den Himmel oder die Augenfarbe verwendete „Stahlblau“ (oder gar „Messerblau“), das eine Situation oder die Gefühlslage einer Person als hart, schwer und kalt beschreiben soll. Doch es geht auch kreativer: Celan beschreibt „das Haus des Vergessens“ mit „schimmelgrün“ (Liste 1), um den Aspekt des Vergänglichen zu betonen. Und wenn Poe in „Metzengerstein“ von schwanenweißen Damen erzählt, dann um sie als vornehm und elegant zu charakterisieren: „(…) dort üppige, schwanenweiße Damen aus längst vergangenen Tagen, Frauen, die sich, wie zu den Klängen einer Melodie, in den seltsamen Windungen eines phantastischen Tanzes drehten.“
Die meisten Farbbezeichnungen sind jedoch weniger expressionistisch und vieldeutig, und immer noch an recht eindeutige Farberscheinungen aus Natur und Kultur geknüpft, z.B. Erdbraun, Kalkweiß, Asphaltgrau und Rostrot. Scheinbare Ausnahmen der in dieser Liste geltenden „ohne Pflanzenbezug“-Regel wie „Kaffeebraun“ sind hier trotzdem zu finden, weil sie sich auf Produkte aus Pflanzen beziehen; eine unverarbeitete Kaffeebohne ist beige, die Früchte sind rot oder gelb. Erst der geröstete Kaffee und das daraus hergestellte Getränk sind schwarz bzw. dunkelbraun. Auch für aus Pflanzen gewonnene Farbstoffe wie Resedagrün (eigentlich gelb) und Hennarot, sowie andere Verarbeitungsprodukte (Zuckerweiß, Weinrot) gilt diese „Ausnahme“. Warum „Samengrau“ in dieser Liste steht und nicht in der ersten, botanischen, wird im Kontext deutlich.
So wie bereits die erste Liste verdanke ich auch die untenstehende zahlreichen Hinweisen des Aphoristikers Sin Leqe-Unnini.